Dienstag, 19. Juli 2016

Post mortem

Fast eineinhalb Jahre liegt der Tod meines Bruders nun zurück.
Ich als kleine Schwester wusste ganz genau, was mein Bruder nach seinem Ableben von mir erwarten würde: auf unsere Mutter zu achten, das sie sich nichts antat. Doch wie widerstrebend ist das Gefühl, sich um jemanden zu kümmern, der einen die meiste Zeit seines Lebens misshandelt hat? Sich mit der eigenen Trauer um den großen Bruder nicht richtig befassen zu können, weil diese Energie für andere Dinge drauf geht?
Es ist nicht nur widerstrebend, es ist nahezu widerlich, auf gute Tochter zu machen. Ich habe ein wachsames Auge auf sie geworfen, habe Kontakt wieder zugelassen, habe mich um viele persönliche Dinge meines Bruders gekümmert. Schnell fiel mir dabei auf, wie ich als Ersatz für meinen Bruder fungierte - ich sollte nun zugangsberechtigt sein für ihre Bankangelegenheiten, falls ihr etwas zustößt, vorher war das mein Bruder. Mir wurden Dinge erzählt, die vorher nur ihm mitgeteilt wurden. Die sie ihrem Ex und meinem kleinen Bruder nie erzählte, obwohl sie mit denen im gleichen Haus lebte. Da hieß es "Ich fliege nächsten Monat wieder weg, aber erzähl das nicht dem Alten oder deinem kleinen Bruder". Es ist so ein ekeliges Gefühl, immer deutlicher zu spüren, für gewisse Dinge ein Ersatz zu sein. Darum gebeten habe ich nie. Auch wurde ich nicht gefragt, ob ich das wollte.
Und immer öfter entzog sie sich Verantwortungen, schob Ausreden vor, lud die Verantwortung auf andere ab. Und immer mehr steigerte sie sich in ihr verzehrtes Weltbild hinein, es gab nur noch sie und die Trauer um ihren geliebten Sohn. Nur das. Nichts anderes. Keine Tochter. Keinen jüngeren Sohn. Keine Verantwortung gegenüber anderen. Sie war die Arme in ihrer Welt.
Sie ließ ihren jüngsten Sohn das erste Weihnachten nach diesem Schicksalstag alleine zuhaus. Ja, er war 18. Ja, er hatte seinen Erzeuger zuhaus, der sich sonst um nichts wirklich scherte. Ja, ihr jüngster Sohn hatte ihr gesagt, sie solle ruhig nach Mallorca fliegen, wenn sie Weihnachten zu sehr an ihn erinnern und sie es zu sehr schmerzen würde. Was hätte er auch anderes tun sollen? Er nahm bei allem Rücksicht auf sie, umsorgte sie.

Doch wer war nochmal das Kind, wer die Mutter?

Oft saß sie vor mir und klagte mir ihr Leid. Ihr ehemaliger Arbeitgeber hätte sie dazu genötigt, im Laden zu stehen, weil sonst keiner da gewesen wäre, deshalb hätte sie die letzten Stunden mit ihrem Sohn verpasst. Deshalb könne sie dort auch einfach nicht mehr arbeiten. Deshalb ist sie in die Frührente gegangen.
Sie brachte ihn an einem Sonntag in das Krankenhaus. In der Nacht zu Mittwoch starb er auf dem Operationstisch. Ich erfuhr von seinem Tod erst am Mittwoch Abend. Sie hatte mich nicht angerufen und gesagt, das er im Krankenhaus liegt. Sie sagte mir nicht, wie schlecht es um ihn stand. Sie ließ mir keine Möglichkeit, mich zu entscheiden, noch einmal zu ihm zu fahren. Ich wäre von der Arbeit gegangen und wenn wegen mir die Arbeit dort zum erliegen gekommen wäre. In dieser Situation hat jeder eine Wahl. War diese Tatsache zu ihr durchgedrungen? Nein. Sie war schließlich die liebende Mutter, die um die letzten Stunden mit ihren geliebten Sohn gebracht wurde. Alles andere - nebensächlich.

Was bin ich wert?

Diese Frage hab ich mir in den letzten Monaten wieder häufiger gestellt. Als Kind war es eine Frage, die mir täglich durch den Kopf ging. Was bin ich meiner Mutter wert? Was bedeute ich ihr? Als Kind lautete die Antwort für mich, das ich ihr Ärger bedeute, das ich ein schlimmes Kind sei, ein abscheuliches, ungezogenes Kind, das nie das tut, was die Mutter von einem guten Kind erwartet.
Jetzt als Erwachsene bin ich die, auf der sie ihre Verantwortungen abstellen kann. Ich kümmer mich um dies, um jenes.
Ich bin ja die gute Tochter, die sowas hinkriegt, weil ich ja stark bin. Gefragt wurde ich übrigens nie, wie es mir mit alledem ging. Was für Gedanken ich hatte. Ich kann schließlich ihre Verantwortungen übernehmen, sie umsorgen, sie ist die leidene Mutter, ich die starke Tochter.
Bin ich? Was bin ich?
Ich bin die stoische Tochter, die keinen Kontakt zum kleinen Bruder hat. Warum? Zugegeben, unsere geschwisterliche Bindung existierte noch nie wirklich. Und was wäre, wenn ich mich um ihn kümmern würde? Ich wäre die gute Tochter, die ihren kleinen Bruder bemuttert und die leidene Mutter von einer weiteren Verantwortung erleichtert.
Ich bin die maßlos wartende Tochter, die dummerweise noch immer darauf wartet, das die Mutter endlich zu einem aufarbeitenden Gespräch bereit ist. Welches es niemals geben wird. Denn sie hat doch nie Fehler gemacht. Ich bin schließlich auch die Tochter, die maßlos egoistisch als Kind war, die dachte, die Welt drehe sich nur um mich, die deswegen der Mutter so viel Ärger bereitet hat, die nicht essen wollte, sodass die Mutter ihr das Essen einprügeln musste. Das geschah aus Liebe. Oder? Als naives, nach Liebe suchendes Kind hätte ich es wohl direkt geglaubt. Vielleicht habe ich es auch geglaubt. Schließlich habe ich mich immer als das schlimme, böse Kind angesehen.
Ich bin die verletzte Tochter, die oft nicht weiß, wo hin mit dem Emotionen. In einem Moment wünschte ich, es würde sich endlich zum Besseren wenden, im nächsten Moment überwiegt die blanke Wut auf meine Mutter, was wiederum in Hass umschlägt, denn diese ungezügelte Wut, die hat sie mir eingeprügelt und mich gelehrt. Es lässt mich weinen und verzweifeln, ich fühle mich wie Dreck, ich will nicht so enden wie sie, bevor mein Leben überhaupt richtig angefangen hat.

Gute Miene zum bösen Spiel.

Oder besser gesagt zum falschen Spiel. Es ist so zerreißend, sich um jemanden zu kümmern, der einem so viele grausame Dinge angetan hat. Diesen Menschen zu trösten und sich um ihn zu kümmern. Es macht mich krank. Und ehe ich es bemerkt habe, hatte sie mich wieder unter ihrem Scheffel. Der Ausbruch ist aber wesentlich einfacher als Kind - ich weiß es, bin mir bewusst, was sie mir mit ihrem Verhalten antut. Was es mit mir macht, sich um sie zu kümmern. Und zuletzt bin ich auch nicht mehr alleine. Mir klare Regeln im Kontakt mit ihr zu setzen, war nicht leicht. Es ist ein Prozess, der schon viele Jahre läuft und der wohl niemals abgeschlossen ist. Ob mir diese Regeln helfen, mich selbst vor ihr zu schützen, weiß ich nicht. Ich hoffe es.

Ich bin Ersatz und doch irgendwie nicht. Je nach ihren Interessen und Launen. Es interessiert sie nicht, was ich mache. Sie fragt nicht, wie ich mit dem Tod meines großen Bruders zurecht komme. Es ist ihr völlig egal, wie sehr sie mir mit all ihren Taten geschadet hat, für sie sind diese niemals passiert. Was sie interessiert, sind Enkelkinder. Bevor sie ihren Platz auf Mallorca gefunden hatte, interessierte sie sich dafür, ob in unserem zukünftigen Haus denn auch Platz für sie wäre. Sie könnte dann ja auf die Enkelkinder aufpassen.

Das sind die Momente, in denen ich mich richtig dreckig fühle. Es ist nicht das Interesse an meiner Person, sondern das Interesse an dem, was ich ihr liefern kann. Noch habe ich keine Kinder und ich werde einen Teufel tun, ihr diese jemals auch nur namentlich gegenüber zu erwähnen. Niemals werde ich zulassen, mit ihr unter einem Dach zu leben. Und im nächsten Moment verabscheue ich mich selbst für dieses ekelhafte Schwarz-Weiß-Denken, welches sie mir eingetrichtert hat. Entweder du gehörst dazu oder du gehörst in die Gosse. Dann brauche ich Zuspruch von anderen, die mir bestätigen, das meine Ansicht in diesem Fall richtig, ja notwendig ist, damit ich selbst gesund bleibe, im Kopf wie im Herzen.

Die Probleme sind nicht unbedingt mehr geworden nach dem Tod meines Bruders. Sie haben sich ausgebreitet und rauben mir die Energie. Sie beeinflussen mich nun auch an anderen Stellen und ich frage mich, wird es je ein Ende haben?

Montag, 2. März 2015

Mein liebster Bruder

Wir wussten alle, das dieser Tag kommen würde. Es war uns immer bewusst, das mein großer Bruder eine geringere Lebenserwartung hat, als ein gesunder Mensch. Erst hieß es, er wird keine 10, keine 12, keine 16, ab 18 keine Lebensgarantie mehr.
Mein lieber, großer Bruder.
Thomas war immer ein Kämpfer. Hingegen allen Vermutungen der Ärzte zum Trotz, erreichte er so unglaublich viel und dabei schätze er das Leben so sehr, wie es die wenigsten Menschen überhaupt jemals tun.
Mein großer Bruder, meine kleine Familie, meine Welt, du warst immer meine Bezugsperson. Niemand war mir im Leben so wichtig, wie du es warst. Du hast mir so viel beigebracht, wir haben so viel zusammen erlebt. Egal wie dunkel meine Welt war, wenn du da warst, konnte ich alles ertragen. Für dich konnte ich alles ertragen.
Mein großer Bruder starb am 4. Februar, vor 26 Tagen. Und ein Teil von mir starb mit ihm.
Es gab doch nie ein Leben ohne ihn, er war immer da. Egal wie schlecht es mir ging, er hat mir immer weiter helfen können, egal wie schwierig eine Situation war, er gab mir immer eine Wegweisung an.
Nun bin ich allein.
Es ist der schwierigste Moment in meinem Leben, ich wusste das er kommen würde, aber das macht es nicht leichter. Ich bin gerüstet, mit Schwert und Schild, durch dich, doch der Moment dauert an. Und er wird es auch noch sehr sehr lange.
Das Schwert von dir, das mir sagt, ich soll nicht weinen, ich soll kämpfen, ich soll weiterleben.
Das Schild von dir, das mir zeigt, wie stolz du auf mich bist, weil ich alles so umsetze, wie du es dir wünschst.

Niisan, großer Bruder, immer wieder sage ich dieses Wort in Gedanken, in der Hoffnung, dich zu hören, wie du Neechan zu mir sagst, zu deiner kleinen Schwester. Niemand wird mich mehr so ansprechen. Und ich werde niemanden mehr mit Niisan ansprechen. Es waren unsere Namen, die wir uns gegenseitig gaben.
Es tut so unendlich weh, zu wissen, das ich dich nie wieder sehen oder hören werde. Wir können nicht mehr zusammen rumalbern, lachen, zusammen über etwas aufregen oder uns zanken, nie wieder Vertragen, ganz ohne Entschuldigung. Nie wieder blind verstehen. Obwohl das nicht ganz stimmt. Ich weiß, was du von mir erwartest, auch jetzt sind deine Gedanken und dein Wesen immer bei mir, doch kann dieses Wissen die Lücke nicht füllen, die in meinem Herzen entstanden ist.

Es war ein Mittwoch. Es war kalt, ein grauer Tag, hier bei uns im Norden. Wir fuhren zu deiner Wohnung, wo unsere Mutter auf uns wartete. Mein Freund hatte mir nichts gesagt, aber er wusste es bereits. Ich wollte nicht mit ihr in deine Wohnung, ich war nicht bereit, mit ihr zu reden, weil da diese unendlich großen, unbesprochenen Dinge zwischen uns lagen.
Doch wir gingen alle drei in deine kleine Wohnung. Ich saß auf deinem Sofa, dein Traumsofa, mit dem du so zufrieden warst, nachdem du so viele Probegesessen und es gefunden hattest. Sie fing an zu erzählen. Sie sagte, sie wüsste nicht, wie sie es mir sagen soll. Ich habe sie noch nie so aufgelöst gesehen. Sie sah aus, als wenn ihr Leben in Trümmern läge und ich wunderte mich, denn an mir und den Problemen zwischen uns konnte das nicht liegen. Sie begann von dir zu erzählen. Die Entzündung im Port wurde schlimmer. In Westerstede haben sie dir nicht das Antibiotikum gegeben, was die Hamburger Uniklinik empfohlen hatte, dabei kannten sie sich besser mit dir aus. Sie schickten dich nach drei Tagen wieder heim, wo du selber noch Infusion weiter gemacht hast. Von da hast du mir zwei letzte Fotos von dir geschickt, am 27. Januar. Am darauf folgenden Sonntag ging es dir so schlecht, das sie dich nach Bremen ins Krankenhaus gebracht hat. Sie gaben dir sofort das richtige Antibiotikum, aber sie wollten den Port nicht direkt rausholen. Das Antibiotikum schlug nicht mehr an. Sie weinte noch mehr und schluchzte, als sie sagte, das sie dich in der Nacht zu Mittwoch in den OP schoben, um in einer Notoperation den Port zu entfernen. Niisan, dachte ich in meinem Kopf, Niisan, liegst du im Koma? Geht es dir so schlecht, das dir keine Zeit mehr bleibt?
'Er ist nicht wieder aufgewacht..'
In diesem Moment spürte ich einen Ruck durch mich gehen, ich sprang halb vom Sofa auf, ich krallte mich an meinen Freund fest, ich wollte weg von diesem Satz, von diesem Zustand, den ich nicht wollte. Ich schrie. Immer wieder. Und ich weinte. Eine ewige Zeit, während ich in meinem Herzen spürte, wie ein Teil in mir starb.


Am nächsten Tag fiel Schnee vom Himmel. Auch am darauf folgenden Tag. Es war kalt, es schneite, nachmittags schien kurz die Sonne. Eigentlich ein paar schöne, ruhige Februartage. Zu idyllisch für mich. Es kann draußen noch so schön aussehen, wenn in mir alles dunkel, kalt und tot ist.

Am 27. Januar haben wir das letzte Mal geschrieben. Du warst froh, wieder zuhaus in deiner kleinen Bude zu sein.

'Infusion @ home 8)', das hattest du geschrieben...


...und setztest das Foto bearbeitet noch mal nach, womit du mich mal wieder zum Lachen brachtest.

Ich fragte: Niisaaaaaaan
Wann kommst du denn mal wieder her?

Deine Antwort, deine letzten Worte:
Das weiß nur der Wind

Mein liebster großer Bruder, Thomas.
✩ 19. April 1987
✝ 4. Februar 2015

https://www.facebook.com/memory.pommel

Dienstag, 18. November 2014

Eine Erinnerung

Ich war 8 Jahre alt. Aufgeschrieben habe ich diese Erinnerung mit 17.

Es war abends, es gab Abendbrot mit Brötchen, weißen Brötchen. Ich hatte wieder ein komisches Gefühl im Bauch. Mama gab mir eine Oberhälfte eines Brötchens und machte selbst weiter. Weil ich nichts tat, fragte sie, was los sei. Wie jedes Mal sagte ich mit stiller, erstickender Stimme: "Ich habe keinen Hunger." Gereizt sagte sie: "Es wird ein halbes Brötchen gegessen. Was soll drauf?" Ich sagte nichts, worauf sie einfach Nutella draufmachte. Später dachte ich, Salami wäre besser gewesen. Ich machte keine Anstalten, es zu essen. Ich weinte, worauf meine Mutter die Geduld verlor, die Hälfte nahm, mich am Kiefer packte und es mir mit den Worten "Friss endlich dein Brötchen!" gewaltsam in den Mund zwängte. Ich weinte und schrie leise und jämmerlich. Sie ohrfeigte mich mehrmals, schrie mich an, ich solle endlich kauen und runterschlucken. Hart packte sie mich am Oberarm, zog mich vom Stuhl und brachte mich ins Bad. Dabei beschimpfte sie mich lautstark und riss an meinem Arm. Im Bad schrie sie: "Ausziehe, zieh dich sofort aus! Und schluck endlich runter!" Wieder ohrfeigte sie mich. Schnell zog ich meine Sachen aus und sie zog mich am Oberarm in die Dusche. Sie stellte das Wasser an und hielt mir den Duschkopf über den Kopf. Das Wasser war eiskalt, doch das war ihr, wie sie sagte, scheißegal. Sie nahm Shampoo und schrie: "Komm her!" Schmerzhaft schäumte sie mir die Haare ein. Das Shampoo brannte in den Augen, weshalb ich sie mir rieb und noch mehr weinte. "Hör auf zu flen', bist du selber Schuld!" Wieder hielt sie mir den Duschkopf über den Kopf. Ich kniff die Augen zusammen und verschluckte mich am Wasser, das Brötchen war mittlerweile weg. Wieder schrie sie mich an, ich solle mich nicht so anstellen. Als das Shampoo ausgewaschen war, wrang sie mir schmerzend die Haare aus und zog mich aus der Dusche, wieder am Oberarm. Nackt und nass schleifte sie mich durch die Wohnung in mein Zimmer und öffnete die Balkontür. Irgendetwas Schlimmes sagte sie noch zu mir und drängte mich auf den Balkon, danach schloss sie die Tür, verließ mein Zimmer und machte dort das Licht aus und die Tür zu. So stand ich draußen, in Dunkelheit und Kälte und weinte. Es ging mir sehr schlecht, wie jedes Mal kam ich mir so tief hilflos vor. Ich guckte durch das Fenster auf dem Balkon in das Zimmer meines kleinen Bruders. Durch das Schlüsselloch fiel Licht und ab und zu huschten Schatten vorbei. In diesem Moment kam mir das Schlüsselloch wie eine große Welt vor. Es war alles, was ich sah. Später, als ich endlich erschöpft im Bett lag, taten mir einige Stellen am Kopf weh. Sie hatte mich mit dem Duschkopf mehrmals hart erwischt. Am Hals hatte ich einen langen roten Strich, ein Ratscher von ihrem Fingernagel, er war rechts und verlief von hinten oben schräg rüber nach unten. Mein Bett war so warm, leise schluchzte ich und drückte mein Kuscheltier, ein Eichhörnchen, an mich. Ich war so kaputt und bettelte in Gedanken Papa an, das er mich doch bitte holen solle. Aber ich wusste, das dass niemals passieren würde, doch davon wollte ich nichts wissen. Ich wollte nur träumen, einfach nur träumen. Das war etwas, was mir meine Mutter nie verbieten konnte. Ich konnte nicht einschlafen, ich hatte einfach Angst.

Ich hatte sehr große Angst davor, das meine Mutter später nochmals wegen dieser Sache mich bestrafen würde. Ich fühlte mich sicher in meinem Bett, doch war ich dort auch auf eine Art und Weise gefangen, denn sobald ich das Bett verlassen musste, war ich meiner Mutter wieder ausgesetzt. Als später, nachdem schon lange Ruhe in der Wohnung und im gesamten Block herrschte, meine Zimmertür aufging und meine Mutter mit einem Kerzenglas reinkam, blieb mein Herz kurz stehen. Mir wurde schlecht, die Angst kroch mir den Hals rauf und ich rechnete mit allem. Meine Mutter entschuldigte sich bei mir, sie weinte und legte sich dann zu mir ins Bett, die Kerze blieb auf der Holzkiste stehen, die ich als Nachttisch benutzte. Da lag sie dann hinter mir, hatte einen Arm um mich gelegt und schlief irgendwann ein. Die Kerze flackerte. Mein Herz ebenfalls. Mein ganzer Körper war angespannt, ich starrte auf die Kerze und horchte in die Nacht hinein, jederzeit bereit um mit allem zu rechnen. Plötzlich war mein Bett nicht mehr sicher, ich hatte das Gefühl vollkommen ausgeliefert zu sein. Ich hatte noch größere Angst einzuschlafen, denn sie lag neben mir. Ich sehnte mich stets nach mütterlicher Zuneigung, einfach Geborgenheit, doch diese Nähe meiner Mutter war mir furchtbar unangenehm. Es verwirrte mich als Kind, ich verstand nicht, warum ich mich so schrecklich unwohl in ihrer körperlichen Nähe fühlte, denn ich wünschte mir so sehr eine liebe Mutter.

Heute, viele Jahre später, denke ich, das ich ständig in der Verteidigungsstellung war, ich habe ständig damit gerechnet, das im nächsten Moment etwas passieren könnte, wirkliches Vertrauen in andere Personen zu haben fällt mir auch heute noch sehr schwer.
Selbst wenn mein Kopf sagt, das mein Freund mir garantiert nichts tut und ich nicht schuld daran bin, wenn er sich wegen irgendwelchen Dingen aufregt, die ihm nicht gelingen, wechsle ich unbewusst in meine Starre, in der ich keinen Mucks von mir gebe, auf jedes noch so kleine Geräusch höre und ganz leise anfange aufzuräumen. Ein Reflex, denn wenn meine Mutter sauer war, dann war es für mich sehr wichtig, sie nicht noch mehr zu reizen und meine liebsten Sachen in Sicherheit zu bringen.
Es macht mir Angst, wenn Menschen in Wut schreien, andere Menschen anschreien.Warum machen sie das? Fragt sich keiner in diesem Moment, wie sich das Gegenüber fühlt? Wie man selber wirkt?
Schreiende Menschen sind nicht vertrauenserweckend. Bei mir wecken sie nur eines: Vorsicht.

Dienstag, 9. September 2014

Nicht mein Körper, nicht mein Leben, nicht meine Entscheidung

Alles an mir wurde von meiner Mutter bestimmt. Was ich für Klamotten trug, was mit meinen Haaren war, wie ich was zu machen hatte. Meine Meinung war nie gefragt.
Zu Beginn war es die Kleidung. Ich trug die abgelegten Sachen meines großen Bruders, das Geld war ja immer knapp. Wenn meine Mutter gebrauchte Klamotten von Freunden bekam, wanderte das auch in meinen Schrank. Nur selten waren Mädchensachen dazwischen. In der Grundschule war es mir zwar noch nicht so unangenehm in solchen Sachen rumzulaufen, aber mit 10 war es mir immer peinlicher. Ich hätte mir keine tollen Klamotten gewünscht, einfach normale Mädchenkleidung hätte mich glücklich gemacht. Aber ich besaß nur diese typischen Jeanshosen, die auch mein Bruder trug, weite Pullover und Shirts, die eigentlich schon seit einem Jahrzehnt aus der Mode waren. Röcke oder Kleider besaß ich mit der Zeit immer weniger, doch schon am Anfang waren sie knapp vertreten in meinem Schrank. Meist durfte ich sie auch nicht tragen, sie waren zu gut für den Alltag. Ich erinnere mich an ein hübsches Winterkleid, es hatte ein blau-cremefarbenes Schottenmuster und eine tolle dunkelblaue Schürze, beides aus wunderbar weichen, warmen Stoff. Getragen habe ich dieses tolle Kleid jedoch nur einmal. Hingegen gab es andere Dinge, die ich tragen musste, weil meine Mutter es so wollte, weil sie die toll fand. Pullis, deren Kragen kratze, steife raue Jeanshosen, wozu man erwähnen muss das ich dieses Gefühl von rauen Jeansstoff unter meinen Fingern absolut widerlich finde, Jacken, indenen ich völlig unterging, mich nicht wärmen konnten weil der Wind leicht reinzog und einfach grauenhaft aussahen, die Liste verhasster Kleidungsstücke ist lang. Als ich noch kleiner war, vielleicht 5 oder 6 Jahre, bekam meine Mutter von irgendwo her ein Unterwäsche-Set für Mädchen her, in grau, mit 101 Dalmatiner-Print darauf. Sie fand es so toll, natürlich hatte ich das zu tragen und gefälligst auch wert zu schätzen. Der Print störte mich nicht, im Gegenteil. Auch der Stoff war angenehm auf der Haut. Aber es war einfach zu klein für mich. Recht bald nachdem das Set durch die erste Wäsche gelaufen war, lag die Unterhose zwischen den Klamotten, die ich an einem Morgen anziehen sollte. Mir graute es, aber ich wusste auch was passieren würde, wenn ich mich weigern oder schlichtweg fragen würde, ob ich eine andere anziehen dürfte. Ich wäre undankbar, nichts weiß ich zu schätzen, das ist neu, das muss dir gefallen! Da sich nicht die Möglichkeit bot unbemerkt die Hose zu wechseln, musste ich sie anziehen. Die Bündchen an den Beinen taten weh, es zwickte und war einfach unangenehm. Wie in vielen anderen Situationen mit meiner Mutter versuchte ich die Sache so gut wie möglich irgendwie 'abzuwickeln', die Zeit rumkriegen, das es vorbei war, einfach der Gedanke, das geht auch vorbei und ist nicht so schlimm wie das Essen. An diesem Tag fuhren wir zum Standesamt, ich weiß nicht mehr genau weswegen, vielleicht mussten wir mal wieder umgemeldet werden oder es ging um irgendwelche anderen Papiere. Es waren viele Menschen da, meine Mutter war gereizt, da es sich ewig hinzog. In dem Standesamt gab es überall diese blauen Holzbänke, sie waren fest an den Wänden integriert, mit ein paar Bögen und Wellen, sie waren deutlich älter, aber doch irgendwie hübsch. Wir saßen also dort und warteten. Eigentlich hatte ich keine Probleme, stundenlang Löcher in die Luft zu starren und vor mich hinzu träumen, aber die Bündchen der Hose zwickten immer mehr an den Oberschenkeln, es tat einfach weh, ich rutschte immer wieder hin und her, stand auf, setzte mich hin, juckte mich an den Seiten und versuchte die Bündchen etwas von der Haut zu heben. Die Nerven meiner Mutter strapazierte dies wohl in einem größeren Maße, irgendwann flüsterte sie mir wütend zu, mich gefälligst hinzusetzen und ruhig zu sein, es wäre peinlich das ich so viel Aufmerksamkeit mit meinem Theater machen würde. Der Grund interessierte sie nicht im Geringsten. Also ruhig sitzen, kein Mucks von sich geben und volle Konzentration weg von dem, was weh tat. Als die Hose nach der nächsten Wäsche wieder in meinem Schrank lag, ließ ich sie hinterm Schrank verschwinden.
Dieses 'Verschwinden' von Kleidungsstücken nutzte ich später hin und wieder, um Unliebsames loszuwerden.
Meine Haare unterlagen ebenfalls dem Recht meiner Mutter. Sie waren sehr lang, bis über den Po, dickes, schweres Haar. Ich hatte nie wirklich das Gefühl gehabt, lange Haare seien was Tolles. Zwar bewunderten mich alle für meine Haarpracht, aber sonst konnte ich ihnen wenig abgewinnen. Ich spielte gerne mit den Strähnen, das mache ich noch heute, aber die Pflege der Haare war für mich belastend. Meine Mutter hatte sie mir als Kind immer gekämmt. Es tat furchtbar weh. Direkt oben vom Scheitel zog sie die Bürste komplett bis zu den Spitzen durch, es ziepte so sehr, das ich immer jammerte. Das regte sie auf und ließ sie noch wüster die Haare kämen. Wer schön sein will muss leiden! Das war ihr Dauerspruch dazu. Zwei Dinge daran passten eindeutig nicht. Ich riss mich nicht drum, so lange Haare zu haben und außerdem wollte ich nicht schön sein, in diesem Alter hatte ich andere Dinge im Kopf. Es kam schon einmal vor, das dickere Strähnen in der Bürste zurück blieben. Als ich etwas älter war, vielleicht 11 oder 12, kämmte mir meine Mutter die Haare, nachdem sie mir diese gewaschen hatte. Aufgrund irgendeines Wutanfalles. Ich hab keine genaue Erinnerung daran, was davor passierte. Das Wasser war ziemlich heiß, das Shampoo brannte in den Augen. Anschließend ging sie mit ihrem geliebten blauen, grobzinkigen Kamm an meine Haare. Der Kamm hatte vielleicht 7 Zinken, sie waren unten einen Zentimeter breit und liefen dann spitz zu. Eigentlich ein sehr stabiler Kamm. Sie riss so stark an meinen Haaren, das einige Zinken in meinen Haaren abbrachen. Der Wutrausch, der daraus resultierte, war noch schlimmer als meine Schmerzen, ich hatte nahezu das Gefühl das meine Schmerzen aus Schuldgefühl verschwanden, weil wegen mir ihr Lieblingskamm kaputt war.
Ich wünschte mir immer mehr die Haare abschneiden zu dürfen. Ich kam mir hässlich vor, meine Klamotten waren schon ein Graus für mich, aber dazu noch diese langen Haare, ohne Pony, mit Mittelscheitel in dem berühmten 'straßenköterblond', ich schaute nicht gerne in den Spiegel. Aber ich durfte meine Haare nicht abschneiden lassen. Wenn ich das Thema auch nur erwähnte, wurde meine Mutter sauer.
Meine Haare waren so dick und schwer, das man nicht viel mit ihnen machen konnte. Meine Mutter half mir in der Hinsicht sowieso nicht. Ich wusste wie man Haare einfach flechten kann, aber sowas wie Bauernzöpfe oder anderes beherrschte ich nicht. Haarklammern brachen kaputt bei der Last meiner Haare. Einen Zopf weiter oben am Hinterkopf führte schnell zu Kopfschmerzen, offen konnte ich sie auch nicht lassen, sie waren sofort im Weg und meine Ohren konnten nicht alle Strähnen aufhalten. Ich trug eigentlich immer nur einen einfachen Pferdeschanz, im Nacken zusammen gebunden, fertig. Meiner Mutter gefiel es nicht, wenn meine Haare hinter den Ohren waren, sie sagte, dadurch bekomme ich hässliche Segelohren, ich solle die Haare über die Ohren legen. Das tat ich allerdings nie. Ich fand es sah noch schlimmer aus, es erinnerte mich an eine Nonne oder die Frauen auf sehr alten schwarz-weiß Fotos.
An irgendeinem Silvester probierte ich einen kleinen Seitenscheitel aus, nur mit dem Ponyabschnitt. Es gefiel mir gut, es sah endlich mal anders aus, besser. Ich war irgendwie stolz, das ich durch so eine kleine Sache mich etwas könnte, etwas hübscher sein. Ich war 12 oder 13. Als meine Mutter mich dann sah, lachte sie mich aus und sagte, ich sehe aus wie Hitler. Das hat mich so gedemütigt, ich schämte mich so sehr für diesen Vergleich, das ich sofort mit einer Hand die Strähnen durcheinander brachte und wieder in mein Zimmer ging, um den Mittelscheitel wieder zu legen. Da war mein graues Ich wieder, ich fühlte mich dreckig, ich war es nicht wert, hübsch zu sein. Ab da versuchte ich keine Frisuren oder anderes aus, nicht das ich es vorher viel getan hatte, die Möglichkeiten waren ja beschränkt. Aber nun wollte ich erst recht nicht mehr, meine Devise war: nicht auffallen, nicht noch hässlicher sein, ein Pferdeschwanz und gut.
Ich wurde älter, auf der Hauptschule war ich öfters bei der Sozialpädagogin, sie hörte mir zu und versuchte mich etwas zu unterstützen, ohne direkt mit meiner Mutter Kontakt aufzunehmen. Sie sagte mir einmal, das Kinder ihre Eltern leider nicht erziehen können, das würde nie klappen und ich solle da weder Energie, noch Hoffnung rein investieren. Ich erzählte ihr auch von meinem Problem mit den Haaren, weil sie mich immer mehr belasteten. Ich weiß nicht wann sie dann doch Kontakt mit meiner Mutter aufnahm, aber eines Tages kam ich nach Hause und wurde von ihr angeschnauzt. Sie schrie, das ich aufhören sollte anderen Leuten etwas vorzujammern, das sie eine Rabenmutter wäre und ich armes Etwas mir nicht die Haare abschneiden dürfte. Ich solle doch machen was ich wolle, ich könnte auch gleich meine Koffer packen und zu der Sozialtussi ziehen, schneid dir doch gleich oben in deinem Zimmer die Haare ab!
Es tat sehr weh. Als ich oben in meinem Zimmer saß, musste ich mal wieder weinen. Aber erst, als ich hörte, das sie sich mit etwas anderem beschäftigte und ich für die nächste halbe Stunde für mich alleine war. Leise weinte ich, in einer Ecke meines Zimmers, die nicht sofort einsehbar von der Tür aus war. Sie wäre noch wütender geworden, wenn sie gesehen hätte, das ich heulte.
Nun war es ihr 'egal', ob ich meine Haare abschnitt. Geld für einen Friseur bekam ich natürlich nicht. Sie war sofort angesäuert, wenn das Thema irgendwie zur Sprache kam. Irgendwann aber kam der Tag, an dem mein Kopf von der Last befreit wurde. Von einer Klassenkameradin die Mutter war Friseure, sie hatte mir zugesagt mir die Haare zu schneiden, ohne das ich dafür zahlen musste. Ich war so überglücklich an diesem Tag, ich fuhr an diesem Tag extra mit dem Rad zur Schule, damit ich nach der Schule zu ihr konnte und danach nach hause fahren konnte, denn ein Bus in unser Dorf fuhr nach dem Schulbus nicht mehr. Auf dem Rückweg genoss ich es so sehr den Wind durch die Haare flattern zu lassen, es war ein so extrem freies Gefühl! Ich fühlte mich so wohl, einfach erleichtert. Zuhause gab es dafür dicke Luft, natürlich war meine Mutter alles andere als begeistert und das bekam ich auch in Form von Abweisung zu spüren. Ich hatte mich gegen ihren Willen gewandt.
Nicht immer war das so 'einfach', ich staune noch heute darüber, das es dann irgendwann möglich war.
Eine weitere Sache, über die meine Mutter herrschte, war der Zahnarztbesuch. Zahnärzte sind wichtig, das weiß ich auch und ich wusste, wenn ich ein Loch habe, dann muss das auch behandelt werden, sonst wird es schlimmer.
Die Zahnärztin war immer extrem unzufrieden mit mir. Ich putze für sie nicht ansatzweise gut genug, andauernd hatte ich kleine Löcher und das Elmex Gelée wollte ich auch nicht benutzen. Das ich jedoch empfindliche, weiche Zähne hatte und das Elmexzeug nicht vertrug, wischte sie mit einer Handbewegung davon. Stell dich nicht an! Wenn sie mich behandelte, war es eine Qual für mich. Betäubungen wirken nicht bei mir, spätestens nach dem dritten Mal nachspritzen hatte sie genug und bohrte genervt drauf los. Ich solle nicht so rumzappeln und jammern, ich wäre selber schuld. Jeder Besuch war schlimmer als der zuvor, ich hatte solch eine große Angst vor der Zahnärztin, doch es half nichts zu sagen, das ich nicht zu ihr hinwollte, denn dafür erntete ich jede Menge Ärger mit meiner Mutter. Wiederworte wurden nicht geduldet.
Als ich 13 war, wollte die Zahnärztin eine feste Zahnspange für mich planen. Nachdem fest stand, das ich noch drei Milchzähne hatte, beschloss sie kurzerhand, das mir diese gezogen werden mussten. Für mich war das ein totaler Schock, das Bohren war schon die Hölle, wie sollte ich denn das Ziehen von drei Zähnen überleben? Zwei der Milchzähne hatten bereits begonnen ihre Wurzeln aufzulösen, nur einer nicht, dieser hatte eine außergewöhnlich lange Wurzel. Das hinderte diese wüste Ärztin aber nicht daran, mir alle drei Zähne an einem Tag zu ziehen. Das die Betäubung wie immer nicht wirkte, war ihr auch egal. Nach dieser Tortour war ich fix und fertig, es tat so weh, vorallem der Zahn mit der langen Wurzel saß natürlich bombenfest. Sie war zufrieden mit ihrem Werk, das ich nur noch am Heulen und Zittern war, interessierte sie nicht. Im Anschluss überwies sie uns zu einem Kieferorthopäden, mit dem Hinweis für meine Mutter, das dieser Herr ganz besonders streng wäre und ich da bestens aufgehoben wäre.
Einen Monat später in der besagten Praxis kam für mich der nächste Schock. Ich wunderte mich selber schon, das nur zwei Zähne nachgewachsen waren, der Kieferorthopäde bestätigte mir das, was ich befürchtet hatte: der Zahn mit der langen Wurzel hatte keinen Nachfolger, er wäre mir also auf natürlichem Wege niemals ausgefallen und hätte dazu geführt, das eine Zahnspange nicht unbedingt notwendig gewesen wäre. Infolge dessen habe ich nun mehr Lücken oben im Kiefer, als es hätte sein müssen und ein Beheben wäre nur mit einer Brücke möglich, denn eine Spange geht nunmal nicht.
Für mich ist es noch heute sehr ärgerlich und auch traurig, das sowas mit mir gemacht wurde, ich sehe jeden Tag in den Spiegel und muss damit leben. Ich mag meine Zahnlücke in der Mitte, aber mein vierter obere Schneidezahn fehlt mir. Meine Mutter interessierte sich nicht für meine Gedanken, in ihren Augen war ich daran schuld das ich keine Zahnspange bekam, ich hatte wieder versagt, immer machte ich ihr nur Ärger.
Ich teilte ihr von mir immer nur das Nötigste mit, damit ich so viel wie irgendwie möglich meine Ruhe hatte.
Als ich 13 war, bekam ich meine Tage. Ich wusste was das war, wie das ablief. Das ist eine der wenigen Dinge, die meine Mutter wirklich gut gemacht hatte, sie hatte mich mit 10 Jahren aufgeklärt, sachlich, mit einem Buch.
Für mich war das nichts besonderes, ich wusste nur das ich ihr das nun sagen müsste, damit ich die benötigten Hygieneartikel von ihr bekam. Das lief sehr unspektakulär ab, da meine ersten Tage sich nur sehr leicht zeigten hatte ich auch keine Hektik. Meine Mutter musste an diesem Abend noch zu unserer Oma fahren, also beschloss ich mitzufahren, damit meine Brüder nicht dabei waren. Auf der Fahrt sagte sie mir, was wir bei Oma gleich abholen würden und das ich an dies oder das für den nächsten Tag denken sollte, organisatorische Dinge halt. Irgendwann dazwischen kam auch der Wocheneinkauf zur Sprache, wo ich dann im selben Ton wie zuvor meinte 'ich hab vorhin meine Tage bekommen, ich brauch dann was dafür.' Es kam ein 'ok' und dann ging es weiter mit anderen organisatorischen Dingen.
Irgendwann später habe ich von anderen Mädchen gehört, das ihre Mütter dann etwas besonderes unternahmen, fast schon wie ein kleines Ritual, um zu zeigen das man jetzt eine richtige junge Frau war. Einige Mütter gingen dann nur mit ihrer Tochter bummeln oder in ein Café, einfach etwas Zeit nur zu zweit als Mutter und Tochter. Sowas war mir völlig unbekannt, auch ohne Verbindung zur ersten Regel.
Etwas später eröffnete mir meine Mutter, das ich in ein paar Tagen einen Termin bei der Frauenärztin hätte. Ich war geschockt, was sollte ich denn da? Daraufhin sagte sie mir, da ich nun meine Tage habe, muss ich auch jährlich einmal zur Untersuchung. In diesem Moment wünschte ich mir, ich hätte ihr nichts erzählt. Das ist nicht dort hin wollte, interessierte sie wie gewohnt nicht, jedes Aufmüpfen wurde im Keim erstickt, nicht das ich es gewagt hätte groß gegen sie anzugehen, das war sehr dünnes Eis für mich.
Dann kam dieser Tag, ich saß in diesem Wartezimmer, meine Mutter neben mir, mit der Erwartung mir gegenüber, das ich ohne Theater oder sonstwas mich untersuchen lassen würde. Zum Glück bestand sie nicht darauf mit ins Untersuchungszimmer zu kommen.
Die Ärztin kannte ich schon, bei der letzten Schwangerschaft meiner Mutter waren wir immer hier gewesen, sie kannte mich also auch schon länger. Sie fragte wie es mir gesundheitlich geht, wie oft ich denn nun meine Tage schon hatte und ob ich schon einmal untersucht wurde. Ich sagte ihr, das ich die Untersuchung eigentlich nicht haben wollte und auch nicht verstand, warum ich die jetzt schon brauchen sollte. Sie erklärte mir ein paar Dinge und fragte wieder ein bisschen. Sie war verständnisvoll und sagte, ich sei gut aufgeklärt, ich habe grade erst meine Regel bekommen und da ich weder die Pille wollte, noch mich derzeit ernsthaft für Jungs interessierte, sah sie keinen Grund zur Untersuchung. Bereits ein Jahr zuvor wurde unsere Klasse im Biologieunterricht von A bis Z aufgeklärt, ich kannte sämtliche Verhütungsmittel und so war sie vollkommen zufrieden. Das Vertrauen, dass sie mir vermittelte, tat gut. Ich sollte mich selber melden, wenn ich Fragen hätte oder irgendwas wäre, wenn ich die Vorsorgeuntersuchung machen möchte und wann, wäre meine eigene Entscheidung.
Als ich wieder zurück zu meiner Mutter kam und sie fragte, wie es gelaufen sei, ob alles ok sei, erzählte ich ihr grob, das ich nicht untersucht werden musste und wir deshalb nur gesprochen hätten. Sie war stinksauer.
Dann kamen wieder diese ewig langen Momente, in denen sie mir Strafpredigten hielt, auf dem ganzen Heimweg regte sie sich über mich auf, mal wieder hatte ich die Erwartungen nicht erfüllt. Wie immer nahm ich es schweigend hin und versank gedanklich in meine innere Leere. Da war es ruhig, egal was sie sagte oder tat, mein innerstes konnte sie mir wenigstens weder nehmen, noch verbieten, auch wenn ihre Worte schmerzten.
Alles, was sie sagte, war Gesetz und wurde nicht in Frage gestellt. Wenn sie sagte, das ich dies oder jenes zu tun hätte, dann hatte ich das zu machen, ob ich wollte oder nicht, war egal. Wenn ihr etwas nicht gefiel, dann bekam ich es auch nicht. Wenn es mal diese Momente gab, das sie mit uns Kindern beim Textildiscounter war und ich mir etwas raus suchen durfte, wählte ich etwas aus, was ihr vielleicht grade so noch gefallen könnte und mir etwas gefiel. Was mir wirklich richtig gut gefiel, durfte ich nicht nehmen, denn dann folgten Sprüche wie das sieht doch scheiße aus oder du hast einen Geschmack wie ein Mülleimer.
Ich war als Jugendliche alles andere als zufrieden mit meiner Kleidung, sie war mir größtenteils unangenehm und peinlich. Ich hatte nur wenig Teile, die ich wirklich trug, obwohl der Schrank voll war.
Was es zu Essen gab, bestimmte zwar nicht der Stiefvater, aber es gab immer nur das, was er essen wollte, das bedeutete jeden Tag Fleisch, Kartoffeln, Gemüse. Jeden Tag. Keine Nudeln, erst recht keinen Reis, kein Fisch. Immer nur Fleisch, Kartoffeln, Gemüse. Ich hasse es noch heute.
Familienunternehmungen, sowas gab es rückblickend nur zwei-drei Mal. Und wenn, dann entschieden das meine Mutter, vorallem aber der Stiefvater. Sie war ihm hörig. Ideen oder gar Vorschläge waren nicht erwünscht. Wichtig waren nur die Interessen des Stiefvaters, die meiner Mutter und meines kleinen Bruders, mein großer Bruder hatte sowieso eine Sonderstellung.
Ich fühlte mich abgeschottet. Ich hatte keine Möglichkeit mich zu entfalten, ich konnte keine Wünsche äußern, über meinen eigenen Körper durfte ich nicht bestimmen. Ich erfüllte nicht die Erwartungen meiner Mutter, ich war nicht die Tochter, wie sie es wollte. Ich fragte mich, was ich überhaupt bin. Ich konnte nicht das Bild wiedergeben, was meine Mutter haben wollte, egal wie viel Mühe ich mir gab, das was ich gut konnte, war unwichtig, das was wichtig war, konnte ich nicht.
Sie, die gute Mutter, die sich Mühe gibt. Ich, das schwarze Schaf, die dreiste, unfähige Tochter, die rum erzählt, sie wäre eine Rabenmutter.
Ich war für sie eine Enttäuschung. Und so fühlte ich mich auch.

Dienstag, 12. August 2014

kleine Welt

Mein Umfeld war nie wirklich beständig. Oft zogen wir um, ich wechselte von einer Schule zur anderen, hier und da längere Krankenhausaufenthalte meines Bruders. Mal war ich mit im Krankenhaus, mal kam ich bei Bekannten unter.
Ich kann an meinen Händen nicht abzählen, wie oft ich die Schule wechselte, für die Anzahl der Wohnortwechsel brauche ich zusätzlich noch meine Zehen. Umziehen fällt mir leicht, ich weiß sehr gut wie ich was verpacke. Jedoch wusste ich nie, wie man auf andere Kinder zugeht. Ich hatte nie wirklich Freunde als Kind, ich war ja nie lange genug an einem Ort dafür. Ich war eher die komische Außenseiterin, die nicht dazu passte und aufgrund dessen nie akzeptiert wurde. Ich war ein ängstliches, zurückhaltendes Kind, ständig hatte ich Angst, das mir etwas passiert.
Bei einer Schule rannte ich immer so schnell es ging nach Hause, damit mich die anderen Kinder der Nachbarschaft nicht erwischten. Sie schubsten mich rum, nahmen mir meine Tasche weg, ich hatte Angst vor ihnen. Einmal kletterte ich über einen Drahtzaun, wobei die gute rote Jeanshose ein großes Loch am Knie bekam. Ich landete im Garten der Vermieterin, die unter uns wohnte, ich huschte schnell an der Hausmauer entlang zur Haustür, damit sie mich nicht sah. Der Garten war verboten für uns. Auf dem Weg nach oben bemerkte ich das Loch in der Hose. Gezittert hatte ich sowieso schon vor Angst wegen den Kindern, nun kamen mir die Tränen und mir wurde erst recht schlecht bei dem Gedanken, was meine Mutter zu der Hose sagen würde.
Sie war sehr sauer. Kannst du nicht aufpassen auf deine Sachen, hatte sie mich angemeckert, schließlich kostet so eine Hose viel Geld. Ich weinte und versuchte zu erklären, das ich über den Zaun klettern musste wegen den Kindern, aber das war uninteressant für sie. Wenn du dich wehren würdest, hättest du das Problem nicht, das ist deine eigene Schuld und in dem Garten hast du nichts zu suchen! Wie oft willst du denn da rüber klettern? Bis der Zaun kaputt gebogen ist? Wer soll das bezahlen?
Ich erwiderte nichts mehr und ließ das Donnerwetter über mich ergehen. Mir war jederzeit bewusst das meine Mutter mir mit diesem Problem nicht helfen würde, ihrer Meinung nach musste ich da selber durch, wenn die Nachbarskinder mich malträtierten, ich sei dafür mit 6/7 Jahren alt genug.
Der Vorteil an dem ständigen Umziehen war definitiv, das ich nach spätestens 7 Monaten woanders wohnte und zur Schule ging und so einigen unliebbaren Kindern entging. Aber Freunde fand ich so natürlich nicht. Ich war eh oft mit im Krankenhaus oder meine Mutter beschloss so, das ich zuhause blieb, ich fehlte viel in der Schule. Meine kleine Welt bestand aus mir selbst, meinen wenigen liebsten Spielzeugen und meiner Fantasie im Kopf, das wars. Ich konnte mich stundenlang mit einem Spielzeug beschäftigen, ohne einen Mucks von mir zu geben, ich brauchte keinen Mitspieler. Irgendwo rumsitzen und Löcher in die Luft starren, das tat ich auch sehr gerne, Tagträume waren meine Welt. Dort war es immer schön, es ging mir gut, ich war nie allein und erlebte tolle Dinge. Ich versuchte bald nicht mehr wirklich ernsthaft Anschluss an Gleichaltrige zu finden, es war zu aufwendig und hielt ja doch nicht lange, denn der nächste Umzug kam bestimmt. Oder wieder eine längere Abwesenheit meinerseits, weil ich mit im Krankenhaus war.
Wenn ich meinen Bruder und meine Mutter ins Krankenhaus begleitete, hatten meine Mutter und ich ein kleines Zimmer im Elternhaus der Uniklinik. Dort verbrachte ich sehr viel Zeit alleine. Auf die Station meines Bruders durfte ich nicht, denn ich war noch keine 12 Jahre alt und das war eine Bedingung, da diese Station besonders schwerkranke Kinder beherbergte. Dadurch, das sie sich aber im Erdgeschoss befand, konnte ich aber über die Terrasse in das Zimmer meines Bruders und das war auch erlaubt. Jedoch saß ich da meistens rum und langweilte mich. Ich sah meinem Bruder beim spielen zu, er hatte einen N64 bekommen, damit ihm nicht so langweilig wurde. Er besaß auch den neuesten Gameboy und eine gute Hand voll Spiele. Ich hatte noch meinen ersten Gameboy, den grauen, mit Tetris, außerdem hatte ich noch Kirby's Dreamland. Tetris spielte ich wirklich gerne, aber jeden Tag, von morgens bis abends? Nein, das war alleine deswegen schon undenkbar, weil meine Mutter mir niemals so viele Batterien für den Gameboy gekauft hätte, sie würden ja ständig leer sein. Aber ich hätte eh nicht so viel und lange spielen wollen. Wenn ich nicht durch die große Uniklinik spazierte und jeden Winkel erkundete, dann war ich draußen unterwegs um die Klinik herum, im Klinikpark, auf der großen Wiese neben dem Elternhaus oder bei dem Helikopter-Landeplatz. Hier lernte ich den Unterschied zwischen Hubschrauber und Helikopter. Darauf war ich sehr stolz, denn es war etwas, was ich für mich selber erkannte. Wenn ich alleine im Elternhaus war, dann spielte ich dort in dem übergroßen Spielzimmer, das fast jede Art von Spielzeug hatte. Eine ganze Spielecke, ein Spielhaus zum reingehen und raufklettern, Puppen mit Puppenhaus, Holzeisenbahn, und und und... Aber meist wurde mir schnell langweilig dadrin, ich war ja alleine, kein anderer war im Haus. Manchmal saß ich dann in dem so genannten Jugendzimmer, dort war ein Keyboard, jede Menge große Sitzsäcke, ein Fernseher mit Recorder und einem N64. Auch Kassetten gab es genug. Ich guckte mich durch alle Filme, ich spielte am Nintendo, testete am Keyboard rum und baute mir einen Turm aus den Sitzsäcken. Irgendwann wurde aber auch das langweilig. Im Vorraum des Elternhauses gab es einen Tischkicker und einen Billiardtisch. Nach nur kurzen Spielrunden mit mir selbst suchte ich mir wieder etwas neues. Es gab kleine Fahrzeuge im Elternhaus, Roller, Dreiräder, kleine Fahrräder. Mit diesen durfte man durch das ganze Haus fahren. Das Elternhaus hatte ein Erdgeschoss und einen ersten Stock, sehr lange Flure und einen Fahrstuhl. Ich fuhr so viele Runden in diesem Haus hin und her, mal mit dem einen, mal mit dem anderen Fahrzeug. Immer wieder schaute ich auf die Uhr, wann es für mich an der Zeit war rüber zu meinem Bruder und meiner Mutter zu gehen für das Mittagessen. Wenn es draußen trocken und warm war, spielte ich im Garten des Elternhauses. Dort gab es größere Fahrzeuge wie Kettcars, eine tolle Rutsche und einen riesigen Sandkasten. Meist war ich den ganzen Tag irgendwo am rumstromern, alleine, im Kopf am träumen. Selten war mal andere Eltern da, die Betreuer des Elternhauses waren nur an zwei Nachmittagen der Woche zugegen. Irgendwie war ich auch ganz zufrieden damit das ich nie auf Fremde traf, Fremde waren mir nicht geheuer. Einmal jedoch wünschte ich mir, das ganze Haus wäre voll von ihnen. An diesem Tag ging ich, wie an vielen anderen Tagen, unten auf die Kindertoilette. der Türgriff war extra etwas niedriger angebracht und ich fand das toll, schließlich war ich sehr klein für mein Alter. Diesesmal jedoch ließ sich das Drehschloss nicht öffnen. Ich drehte und drehte, aber die Tür blieb verschlossen. Ich fing an zu weinen, ich rüttelte, drückte, drehte hin und her, zog an der Klinke, aber es passierte nichts. Ich bekam große Angst, denn der Raum war in sich geschlossen, es war keine Kabine und es gab kein Fenster. Das Licht leuchtete gelblich-warm, wie im Keller meiner Oma und wie in einem Keller eingesperrt fühlte ich mich auch. Ich wusste ganz genau, das heute kein Betreuer da war, es waren außer meiner Mutter und mir nur zwei andere Zimmer belegt und es war grade früher Nachmittag, meine Mutter würde sich also nicht wundern, wenn ich mich nicht melde, denn das tat ich ja ohnehin nicht. Manchmal war ich zum Abendbrot drüben, manchmal nicht. Ihr meine Lage erst auffallen, wenn sie abends zurück kam und das konnte gut gegen 8 oder 9 Uhr sein. So viele Stunden eingesperrt, das machte mir Angst, ich weinte immer lauter und rief schließlich um Hilfe. Ich polterte und klopfte gegen die Tür, in der Hoffnung das irgendwer im Hause war und mich hört. Der Lüfter in der Toilette war sehr laut, ich bezweifelte das man mich richtig hören konnte. Irgendwann waren meine Hände taub vom Trommeln gegen die Tür. Wie lange ich eingeschlossen war, weiß ich nicht mehr, für mich war es eine Ewigkeit, bis endlich eine Frau auf der anderen Seite der Tür war und mir half. Sie beruhigte mich und wies mich an das Schloss immer wieder in eine Richtung zu drehen. Irgendwann ging diese Tür endlich auf ich war so ängstlich, das ich ihr in die Arme fiel, obwohl sie für mich völlig fremd war, ich hatte sie nie zuvor gesehen und sah sie auch später nie wieder. Sie tröstete mich und ich war so froh wieder die Sonne zu sehen.
Nach diesem Schrecken lag ich fast den ganzen Nachmittag in meinem Bett und weinte, weil die Angst noch in meinem Knochen saß. Und ich war verwirrt, innerlich vom Gefühl aufgewühlt. Diese Frau hatte mich umarmt, mich getröstet und beruhigt, sie schimpfte nicht mit mir. Sie war einfach nur für mich da. Die Erkenntnis, die kam, tat weh. Meine Mutter war nicht so. Obwohl ich in diesem Moment so fertig war, fühlte sich der Moment so angenehm ruhig und sicher an. Wie rosa Sonnenstrahlen dachte ich mir damals. Bei dem Gedanken an meiner Mutter verschwand alles in dunkelgrünen und schwarzen Wolken. Ich würde ihr nicht erzählen was passiert war. Sie würde bestimmt böse sein, das ich solch einen Lärm veranstaltet und die Tür wegen mir ein paar Beulen dank meiner Tritte bekommen hatte. Und schließlich wäre es meine Schuld, meine Dummheit, das all das passiert ist. Auf die Kindertoilette ging ich jedenfalls nie wieder.
Wir waren immer wieder dort, mehrere Wochen, manchmal Monate am Stück. In dieser Zeit hatte ich ein bisschen Unterricht zusammen mit zwei-drei anderen Kindern im Klinikum, sowie mein Bruder. Jedoch war es sehr wenig, vielleicht 5 Stunden die Woche. Wie mein Bruder waren die anderen Kinder Patienten der Station.
In dieser Zeit lernten wir eine andere Patientin und ihre Mutter kennen. Sie war im gleichen Alter wie mein Bruder und die beiden wurden gute Freunde, wann immer sie zeitgleich im Klinikum waren, wollten sie sich zusammen ein Zimmer teilen. Es war für sie entspannender, weil beide die selben Interessen hatten und nicht ständig ein kleines quängelndes Kind neben ihnen im Bett lag, das erst recht keine frische Luft reinlassen wollte. Unsere Mutter und ihre verstanden sich gut. Beide saßen nun abends immer zusammen, sie redeten, rauchten mal eine Zigarette oder sie machten meinem Bruder und dem Mädchen Essen auf Wunsch, das Essen vom Klinikum war nicht prickelnd. Einmal kochten sie griechisch. Da Mutter und Tochter griechische Wurzeln hatten, war die Dame besonders gut darin und mein Bruder liebt griechisches Essen ebenfalls. Sie stellten eine bunte Mischung im Elternhaus zusammen und trugen das Essen, in Schalen gepackt, mit einem lavendelfarbenen Wäschekorb rüber. Sie freuten sich sehr.
Manchmal kam es vor, das ich bei Bekannten bleiben musste. Anfangs war es eine Bekannte meiner Mutter, zu der sie damals mit meinem Bruder und mir von meinem Vater abgehauen war. Ich war nicht sehr gerne dort. Sie und ihr Mann waren starke Raucher, auch im Haus. Die Wohnung war so verdreckt und unordentlich, alles müffelte. Sie hatte Söhne, einige, wie viele weiß ich nicht mehr, aber es waren definitiv mehr als 4. Sie waren alles andere als erzogen, die älteren von ihnen rauchten ebenfalls schon, wobei sie noch keine 15 Jahre alt waren. Ich ekelte mich vor diesem gesamten Haushalt und war so froh, wenn ich vormittags über in der Schule war und nachmittags raus konnte. Selbst bei Nieselregen blieb ich lieber draußen, nur starker Regen jagte mich ins Haus, obwohl ich es als Kind hasste im Regen zu spielen. Meist spielte ich alleine draußen, zu der Zeit gab es viele Baustellen in der unmittelbaren Nähe, ich kletterte auf Hügel rauf, die aus Erde, Schotter oder Steinschutt bestanden. Selten lief mir einer der Jungs über den Weg, sie waren nur draußen, wenn sie mussten.
Als meine Mutter nicht mehr auf sie angewiesen war, kappte sie den Kontakt. Sie hatte nun neue Freunde, die besser waren. Für ein paar Wochen kam ich bei einer Familie unter, die wir in der Mutter-Kind-Kur kennen lernten. Sie hatten eine Tochter im selben Alter und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich wirklich so etwas wie eine Freundin. Bei ihnen fühlte ich mich wohl, am liebsten wäre ich bei ihnen geblieben. Die Atmosphäre in dieser Familie war so friedlich, das war mir so unbekannt. Morgens machte der Vater die Schulbrote für seine Tochter und für mich. Das waren drei fremde Dinge für mich. Ich musste immer mein Brot selber schmieren, der Mann meiner Mutter tat nichts im Haushalt und das es auch noch freiwillig, ja sogar gerne gemacht wurde, war suspekt für mich. Auch wenn wir später immer wieder mal zu Besuch da waren, fühlte ich mich sofort wohl. Leider kappte meine Mutter auch diese Freundschaft nach nur wenigen Jahren, obwohl sie nur einen Ort weiter wohnten.
Ein paar Mal war ich in verschiedenen Einrichtungen unter gebracht. Ein hin und her, meine kleine Welt im Gepäck.
Als ich alt genug war um alleine zuhause zu bleiben, blieb ich meist auch zuhaus. So konnte ich zu Schule gehen, den Haushalt machen und meinen kleinen Bruder versorgen, wenn er von der Schule kam. Mein kleiner Bruder, Halbbruder. Sein Vater tat so gut wie nichts im Haushalt, außer Regeln aufstellen.
Meine Welt wurde um Pflichten erweitert. Schließlich bin ich die Große und kann mit anpacken. Essen machen für den kleinen Bruder und mich, Wäsche machen, aufräumen, bei Hausaufgaben helfen. Meine Mutter hatte mir schon früh beigebracht, wie man Wäsche wäscht und aufhängt, zusammen legt, wie man sauber macht und Essen macht. Wirkliches Kochen konnte ich nicht, es waren Fertigsachen die sie mir beibrachte, simple Dinge, die eine Zwölfjährige hinbekommt.
Inzwischen hatte ich zwar eine Freundin, nur hatte ich wenig Zeit für Freundschaften. Vieles zuhause war meine Aufgabe, im Sommer saß ich stundenlang auf der großen langen Hofeinfahrt und zupfte Unkraut. Das was an Freizeit blieb, brauchte ich fast komplett für mich selbst, ich war es so sehr gewohnt, Zeit mit mir selber zu haben, zum nachdenken, träumen, runterfahren.
Erst gab mir meine kleine Welt Freiheiten, dann hielt sie mich gefangen. Ich verlor den Anschluss und fand nur sehr wenig Freunde, für die meisten war ich wie gewohnt Außenseiter und das hab ich irgendwann auch akzeptiert und gelebt.

Montag, 4. August 2014

Angst

Kennt ihr das Gefühl von extremer Angst? Für mich war sie eine enge Bekannte. Wenn meine Mutter die Stimme erhob, dann wurde mir schlecht, mein Hals schnürte sich zu, das Herz begann zu rasen, die Hände wurden eiskalt und ich zitterte am ganzen Körper. Selbst wenn es nicht mich betraf und einer meiner Brüder sich etwas anhören musste, bekam ich automatisch Angst, denn vielleicht wäre ich gleich auch an der Reihe.

Meine Mutter regte sich immer sehr schnell auf, auch heute ist es noch so. Wenn man selbst der Grund dafür ist, würde man am liebsten sofort in einem Loch verschwinden, egal wie schlimm es darin ist. Mein Gedanke war immer: hoffentlich ist es bald vorbei. Alles was nicht so war wie sie es wollte, gab Anlass für Schreitiraden und anderes. Wenn ich nicht so schnell und so viel aß wie sie es wollte, dann wurde ich angeschrien. Ich durfte keinen Schluck mehr trinken, kein Wort sagen, nicht rumgucken, sondern essen. Ging es nicht schnell genug, stopfte sie mir das Essen in den Mund. Sie packte mich am Kinn oder am Nacken, Gabel oder Löffel waren so voll, das es kaum in meinen Mund passte und ich oft würgen musste. Dabei schrie sie mich an, mit einem unglaublichen Hass in Tonlage und Worten überschüttete sie mich. Friss endlich! Hör auf zu heulen! Du kommst hier erst weg wenn der Teller leer ist und wenn ich dir alles reinprügeln muss! Morgen kannst du den ganzen Tag dein Zimmer aufräumen und wenn ich auch nur ein Mucks höre, dann kannst du was erleben!
Zu Weinen war immer besonders schlimm für mich, denn das hieß erst Recht sehr viel Ärger, wenn ich weinte, wurde es nur noch schlimmer, manchmal war es der Moment, indem sie völlig die Kontrolle verlor. Da wünschte ich mir die Situation am Tisch zurück, wo sie mich anschrie, mit Essen vollstopfte und mir ein paar Ohrfeigen gab. Wenn sie durchdrehte, zerlegte sie mein Kinderzimmer. Sie stopfte mir vorher so viel Essen wie möglich rein, zerrte mich vom Tisch in mein Zimmer. Sie schrie und tobte, während sie Schränke öffnete, mit einem Arm reinging und alles rauswischte, wie Staub, den man wegwischt. Alles landete auf den Boden, sie trampelte darüber und schrie immer wieder, was für ein Saustall mein Zimmer wäre. Wenn sie etwas fand, was ihr nicht gefiel, legte sie noch einmal zu. Dafür reichte schon ein leeres Glas von Vortag, was noch nicht wieder in die Küche zurück gewandert war. Manchmal kassierte ich ein paar Ohrfeigen, wenn sie mich schreiend etwas fragte, worauf ich einfach nicht antworten konnte, ohne noch mehr Ärger zu bekommen, bzw es gar keine Antwort gab, die ihrer Ansicht nach richtig gewesen wäre. Es tut innerlich so weh, mir war so schlecht, ich fühlte mich so hilflos und allein, alle meine Sachen wurden kaputt gemacht und ich musste dastehen, zuschauen und mich anschreien lassen. Wissentlich, das die nächsten Tage, Wochen für mich ebenfalls zum Horror werden würden. Sie nahm mir so gut wie alle Dinge weg, die mir so sehr am Herzen lagen, die mich ablenkten, die mir eine andere Welt zeigten und mir so gute Laune machen konnten.
Ich hörte gerne Kassetten, folglich war es das, was als erstes eingezogen wurde, nebenbei wurden auch gleich ein paar Kassetten weggeschmissen, welche, das entschied ganz allein sie. Auch andere Dinge landeten im Müll, Dinge die sie für Schrott, unnützes Zeug oder 'scheiße' empfand. Manchmal blieben mir Dinge, mit denen ich noch nie etwas anfangen konnte, die mich nicht interessierten, was sollte ich mit Gesellschaftsspielen? Warum durfte ich mein Bastelzeug nicht behalten? Es war schlichtweg Müll in ihren Augen und es passte ihr nicht, wenn ich mich mit solch einem Müll beschäftigte.
Ganz besondere Dinge versteckte ich immer, zu groß war die Angst, das sie es wegschmeißen könnte. Ich klebte Dinge mit Klebeband unter Schubladen, aber auch nur an denen, die nicht aus dem Schrank rauszuziehen waren, denn diese zog sie immer raus und schmiss sie mit zu allem anderen auf dem Boden. Auch hinter den Schränken versteckte ich Dinge. Zwischen den Socken, manchmal auch zwischen den anderen Klamotten. Sie kontrollierte genau was weg sollte, sie stand da mit einem großen blauen Sack, stopfte alles rein und riss mir auch mal Dinge aus der Hand, die ich retten wollte. Wenn ich Glück hatte, war ich für einen kurzen Moment allein oder sie hatte mich nicht im Blickfeld, dann schnappte ich mir so schnell es ging die wichtigsten Dinge aus den Beuteln, versteckte sie im Flur oder wenn ich ganz großes Glück hatte, dann nahm mein großer Bruder sie mir ab und versteckte sie in seinem Zimmer für mich. Letzteres war aber sehr sehr selten, für mich, wie für ihn, wenn sein Zimmer 'dran' war. Zu groß war die Angst, das sie gleich danach das andere Zimmer auch noch zerlegte. Sobald sie damit begann, fing der andere automatisch in seinem Zimmer hektisch, aber mucksmäuschenstill an aufzuräumen und alles beiseite zu schaffen, was sie in Rage brachte. Währenddessen wollte man bloß keinen Ton von sich geben und hoffte, das sie nicht gleich zu einem selbst rüber kommt. Dann, wenn der Sturm vorbei war, saß man alleine da. Innerlich zu tiefst verletzt, verängstigt, am weinen. Aber leise, bloß nicht hörbar sein! Ich fühlte mich so schutzlos ihr ausgesetzt, sie bestimmte über mich und mein Eigentum, oft war alles, was mir lieb und teuer war, nach solch einer Situation futsch. Entweder kaputt, in den Müll geworfen oder einkassiert auf unbestimmte Zeit. Ständig Angst, das es noch schlimmer wird. Die Ohren sind stets auf der Lauer, jeder Ton außerhalb des Zimmers kann Aufschluss über den Gemütszustand der Mutter geben oder zeigen, das sie wieder ins Zimmer kommt. Ob sie trampelt. In ihrem 'Wutschritt' ist. Oder ob es mein großer Bruder ist und wie seine Stimmung ist. Lauschen war für mich eine wichtige Strategie.
Auch am Tisch, wenn ich vor meinem Teller saß, lauschte ich aufmerksam, was meine Mutter in der Küche alles tat, ob sie gleich vielleicht in einen anderen Raum musste, wie lange es dauern könnte und ob ich die Möglichkeit dabei hätte, Essen zu 'verstecken'. Ich saß mit dem Rücken zu ihr, ich konnte sie nicht sehen, anschauen war auch nicht ratsam. Wenn ich dann die Gelegenheit hatte, dann handelte ich schnell und leise, den Plan dafür brauchte ich mir nicht noch überlegen, der lag bereits genau geplant fest. Zu viel Essen durfte nicht verschwinden, das würde ihr sofort auffallen. Also verschwand ein bisschen von dem, was ich am wenigsten runter bekam oder was mir nicht schmeckte. Oft wickelte ich es einfach in ein Küchentuch ein, wir hatten eine Eckbank in der Küche und unter dem Eckstück war es düster, so konnte ich das kleine Schmuggelpäckchen so weit mein Arm reichte ins Dunkle legen, meine Mutter konnte es unmöglich sehen. Das Essen in den Mülleimer zu werfen habe ich früh aufgegeben, sie sah es natürlich sofort, selbst wenn ich es unter den anderen Müll 'baggerte', fand sie es sofort heraus. So suchte ich mir andere Verstecke. Später, wenn ich dann endlich aufstehen durfte und in meinem Zimmer war, wartete ich darauf, das sie die Küche verließ. Sobald sie nicht mehr in der unmittelbaren Nähe war, ging ich zurück und entsorgte das Päckchen in der Toilette. Ich entwickelte für alles ein System, die Angst brachte mich auf Ideen, die für mich so wichtig waren wie für andere Überlebensstrategien in der Wildnis. Und ständig Angst, sie könnte mich dabei erwischen. Nicht nur die Strafe wäre bitter, auch das ich mir was neues einfallen lassen muss und mir klar ist, das sie mich noch genauer kontrolliert und genau beobachtet.
Immer wieder Angst. Sie war bereits in mir, wenn ich zum Essen ging, egal ob Frühstück, Mittag oder Abendbrot. Schon bevor ich was zu essen vor mir hatte, bekam ich Schweißausbrüche. Jeden Tag aufs neue die Frage, wie ich diese Mahlzeit überstehe.
Die allgegenwärtige Angst. Immer in Alarmbereitschaft. Sie sitzt immer am längeren Hebel. Ich bin alleine, es wird mir keiner helfen. Sie hat Macht über mich, ich bin machtlos.

Noch heute wird mir schlecht, wenn sie sich aufregt, wenn sie schreit. Ich bekomme Angst, ein beklemmendes Gefühl in der Brust und seit zwei Jahren macht es mich selber aggressiv. Seitdem ich diese Wut im Bauch habe, trete ich ihr auch offen entgegen und weise sie zurecht. Wenn sie heute schreit oder ausrastet, dann liegt das nicht an mir, ich bin viel zu selten da. Es reicht schon wenn irgend etwas im Haushalt nicht so läuft, wie sie es will, da reicht es schon wenn der Eierkocher die Eier nicht richtig kocht. Sie schreit, dreht durch, wirft Dinge rum. Ich keife zurück. Hör auf rumzuschreien, das will doch keiner hören! Das Ding ist eine Maschine, der denkt sich nicht 'ich ärger sie jetzt mit purer Absicht, weils mir Spaß macht'! Ich kanns nicht hören wenn du ausrastest, ich bin nicht zu Besuch gekommen um mir das zu geben!
Sie hat es vielleicht gehört, aber angekommen ist es in ihrem Kopf, vorallem in ihrem Herzen, wohl nie. Als ich sie vor vollendeten Tatsachen stellte, war die Reaktion die gleiche wie damals, wenn ich hilfesuchend irgendwelchen Freunden oder Bekannten Dinge erzählte. Kein Verständnis, pure Wut, Egoismus, Empörung, Abwertung. Kein Hinterfragen. Erst recht keine Liebe und Zuwendung. Keine Gefühlsregung da drauf, als ich sagte 'Mama, ich habe noch heute Angst vor dir, wenn du die Stimme erhebst'.
Und plötzlich ist man wieder ein kleines Kind, fühlt sich alleine gelassen und wertlos. Läuft man wieder zur Mutter hin, weil ja jedes Kind eine Mutter haben möchte und erst recht braucht, wenn der Vater 500 km entfernt lebt, rennt man wieder in das Messer, das einen schon vorher verletzt hat. Es ist schon fast wie eine Art Selbstverletzung, nur unbewusst. Ich hatte nie wirkliche Blutergüsse durch meine Mutter erhalten, nie hat man äußerlich etwas gesehen. Aber sie hat mir die pure Angst in Mark und Bein getrieben. Ich würde nicht sagen das ich mir als Kind dachte, mein Leben sei in Gefahr, das ich eine Situation mit ihr nicht überleben würde. Nie kam mir der Gedanke, sie wolle mich töten oder würde das zustande bringen. Der Gedanke war eher diese Situation irgendwie zu überstehen, mich irgendwie zu retten und die Folgen so gering wie möglich zu halten, damit es mir nicht 'allzu schlecht' ging.
'Mama, ich habe Angst vor dir.'
'Dann sehe ich auch keinen weiteren Grund mit dir Kontakt zu haben, mit falschen Leuten, die mir was vorspielen, gebe ich mich nicht mehr ab, sowas brauche und will ich nicht in meinem Leben.'

Ich war 15, als sie mir das letzte Mal Essen reinprügelte und mein Zimmer zerlegte. Ich kam ins Krankenhaus weil ich nichts mehr aß, noch sonst irgendwie reagierte, ich war innerlich leer. Hilfe bekam ich nicht. Ich war das schlimme Mädchen, das nie hörte, das alles nur falsch machte. Die zusammenfassende Antwort von Arzt und Psychologe: hör darauf was deine Mutter sagt, beteilige dich am Haushalt, halte dein Zimmer sauber, iss vernünftig und kümmer dich um deine Schulsachen.
Zurück in die Angst? Wozu eigentlich noch. Wer will so leben? Ich nicht mehr.
Und doch meinte es das Leben zum allerersten Mal gut mit mir, denn da war ein Mensch, der mir einen Grund gab, zu bleiben, für den ich wichtig war. Meine beste Freundin war und ist auch heute noch viel mehr Familie und zuhause für mich als meine Mutter.

Samstag, 2. August 2014

Mein Bruder ist krank

Ist es ein Schock, wenn man plötzlich erfährt, das der Bruder oder die Schwester schwer krank ist? Krebs? Leukämie? Thalassämie? Die Liste an solchen Krankheiten ist lang und die Diagnose reißt aus dem gewohnten Alltag raus.
Ich weiß nicht wie das ist. Ich bin die kleine Schwester, mein großer Bruder ist krank, von Geburt an, er hat die Blackfin-Diamond-Anämie und einen IgG-II-Mangel. Was ist das?
Als Kind erklärte man mir es so. Durch die BDA stellt sein Körper keine roten Blutkörperchen her, durch den IgG-II-Mangel keine weißen Blutkörperchen. Wird er wieder gesund? Niemand weiß es. Blackfin-Diamond-Anämie oder Diamond-Blackfin-Anämie oder auch Diamond-Blackfin-Syndrom, wie man es schreibt ist egal, sie ist so selten wie unerforscht, Ende der 80er, Anfang der 90er weiß man viel zu wenig, bis jetzt hat sich daran kaum etwas verändert. Was soll man also einem kleinen Kind sagen?
Meine erste Erinnerung daran, wie sich die Krankheit zeigte, war folgende. Er lag auf dem Boden vor unserem großen Aquarium, ganz bleich, ihm ging es sehr schlecht, das verstand ich, aber würde es ihm wieder besser gehen?
Das Kinderkrankenhaus wurde nicht nur zum zweiten zuhause meines Bruders, für mich war es ebenfalls Alltag dort oft zu sein. Ich wusste das es ihm sehr schlecht geht, das er sehr krank ist und immer wieder die Frage im Kopf; wird er wieder gesund? Knochenmarktransplantation, das war ein Wort, mit dem ich mit 3~4 Jahren natürlich nichts anfangen konnte, wieder bekam ich eine einfache kindgerechte Erklärung, von einer Schwester, die immer den Fingerpiks bei meinem Bruder machte, bevor er auf Station ging. Diesmal saß ich nämlich da und musste meinen Finger herreichen. Warum krieg ich einen Fingerpieks? Sie fing an zu erklären.
Geschwister sind ja die gleiche Mischung aus Mama und Papa. Das Blut von deinem Bruder ist ja krank, aber deines ist ja gesund und dann kann dein Blut seinem Blut vielleicht helfen, wieder gesund zu werden.
Okay. Dafür gibt man gerne den Finger her, sogar alle zehn auf einmal. Ich weiß nicht ob ich mir gewünscht hatte, ihm helfen zu können oder ob ich enttäuscht war, das es schließlich nicht möglich war, denn etwas anderes hatte mich in diesem Moment viel mehr getroffen und meinen Bruder wohl ebenso, denn er war nicht mein 'richtiger Bruder', sondern mein Halbbruder. Für mich als Kind brach damit der Rest einer normalen Welt zusammen, mein Papa war nicht sein Papa. Ob die Schwester, die mir Blut abnahm, das wusste? Ich bekam erst eine Erklärung einer Schwester, warum ich ihm nicht helfen konnte, bis man mir genauer sagte warum.
Dein Bruder hat Erdbeerblut und du hast Kirschblut, das sind leider zwei verschiedene Sorten, deswegen kann dein Blut seinem nicht helfen.
Gestern noch Mama, Papa, Bruder und ich. Eben noch Mama, Papa, schwerkranker Bruder und ich. Nun Mama, mein Papa, schwerkranker Halbbruder und ich. Was ist morgen?
Die Welt geht drunter und drüber, hin und her, wo steht mir der Kopf? Alles ist anders, alles dreht sich um meinen schwerkranken Halbbruder, alle sorgen sich um ihn, wie lange wird er leben? Wie geht es deinem Bruder? Ist dein Bruder noch im Krankenhaus? Ist deine Mama da oder ist sie bei deinem Bruder? Warum hast du dein Zimmer nicht aufgeräumt? Wieso schiebst du die Sachen nur unters Bett? Iss endlich auf! Ich fahre gleich zu deinem Bruder, mach keinem Fremden die Tür auf. Ich kann grade nicht. Hast du immer noch nicht aufgegessen? Warum hast du ins Bett gemacht? Stell dich nicht so an! Wenn man nur Süßkram isst muss man ja Bauchschmerzen auf Toilette haben! Wieso ist dein Teller noch nicht leer? Wer schön sein will muss leiden! Stör mich nicht wenn ich telefoniere. Für deinen Bruder eins und für deinen Cousin, aber für Kinder die nicht aufessen gibt es kein neues Kuscheltier. Wenn dein Teller nicht in 10 Minuten leer ist..!

Meine Welt, mein Alltag im Alter bis 4 1/2. Als Kind konnte ich es nie benennen, heute kann ich sagen, das ich ständig Angst hatte, Angst vor meiner Mutter, Angst davor das mein Bruder stirbt, Angst alleine zu sein und vergessen zu werden. So begann meine Kindheit, es war Alltag, Normalität für mich, mein Bruder war wichtiger als ich, schließlich war er schwer krank, dafür galt es Verständnis aufzubringen und eigene Bedürfnisse hinten anzustellen, denn wer muckt, bekommt nichts außer Ärger, Leid und Last. Und so war ich weniger, als ich eigentlich war. Man muss funktionieren. Aber das funktioniert nicht. Die Folgen können fassettenreich sein. Aber es heißt stets: stell dich nicht an, dein Bruder ist schwer krank.